Helfen und Hilfe annehmen

 

Der Erste sagt zu seinem Freund: „Ich liebe dich sehr“

Der Zweite fragt den ersten daraufhin : „Weißt du denn auch, was mit weh tut?“

Der Erste: „Nein, wie kann ich denn wissen, was dir weh tut:“

Der zweite: „Wie kannst du behaupten, dass du mich liebst, wenn du nicht weißt, was mir weh tut.“

 

Diese Geschichte stammt aus der jüdischen Tradition und hat mich schon immer nachdenklich gestimmt. In diesen Tagen geht sie mir wieder ganz besonders nach, denn ich habe einen jüngeren Mann verabschiedet, der sich das Leben genommen hat.

 

 

Nach außen wirkte er immer fröhlich, gut gelaunt und er war überall als äußerst hilfsbereiter Mensch bekannt.

Nach innen hatte er tiefe Depressionen und großen Ängste, dazu kam die jahrzehntelange unbeweinte Trauer um seinen älteren Bruder, eine Erfahrung, die er wohl nie verarbeitet hatte. Er hatte es nie gelernt, andere um Hilfe zu bitten, machte alle Sorgen mit sich allein aus und verzog sich in sein Schneckenhaus, so dass von außen kaum jemand ahnte, dass es ihm gar nicht gut ging. Auch Ärzte und das Krankenhaus haben ihn nicht wahrgenommen in seiner Not, man schickte ihn nach Hause, nach der heute sarkastisch anmutenden Frage: „Sie sind doch nicht suizidgefährdet??“

 

Mir gehen Fragen im Kopf herum, wie genau wir unsere Mitmenschen wahrnehmen. Spüren wir noch, wie es um unsere Freunde steht? Und fragen wir uns auch schon mal, ob wir wissen und spüren, was unseren Mitmenschen weh tut?

Und vermeiden wir dann ein solches Verhalten?

 

Nehmen wir uns Zeit für ein Gespräch, Zeit zum Zuhören , Zeit für eine liebevolle Umarmung?

Oder geht all das unter im Spielen mit dem Handy, im Fernsehkonsum, im Herumdaddeln mit dem Tablet oder den wichtigen Recherchen im Computer sowie in der ganze Hektik unseres Alltags?

 

Meine Bitte ist die: Nehmen wir uns wieder mehr Zeit für den Menschen, der gerade bei uns ist. Und wenn wir spüren, dass es ihm eben nicht gut geht, öffnen wir unsere Ohren und unsere Herzen, um ihm nah zu sein.

Und bieten wir ihm Hilfe an, es gibt heute so viele Möglichkeiten gute Therapeuten, freie Gestalttherapie, Trauerbegleitung und Trauerseminare und vieles mehr, was Menschen helfen kann, ihre alten Schmerzen und ihre Trauer, ihre Ängste und Sorgen zu bewältigen. Damit sie eben nicht den verzweifelten Weg der Depression und schlimmsten Falls des Selbstmords zu gehen.

Und wir selbst sollten lernen, andere um Hilfe zu bitten, wenn es uns nicht gut geht.

 

Der Unternehmer Cemal Osmanovic hat in einem seiner Seminare eine Übung über Hilfsbereitschaft und Hilfe annehmen eingebaut.

Hierzu brachte er die Teilnehmer in eine Lage, in der der Einzelne die Hilfe eines anderen dringend brauchte. Aber nicht alle haben um Hilfe gebeten, sondern eher das Experiment abgebrochen.

 

Nach der Übung fragte er die Teilnehmer: „Wie ging es euch mit dem Helfen?“

Alle waren der gleichen Meinung: „Ja, das Helfen war toll, es war ein gutes Gefühl, dem anderen helfen zu können.“

 

„Seht ihr“, meinte er, „und darum sind diejenigen unter euch, die nicht um Hilfe gebeten haben, Egoistenschweine… sie haben den anderen ein gutes Gefühl verwehrt, indem sie alles allein schaffen wollten.“

 

Sehr erfolgreiche Menschen haben das früh gelernt, zu sagen: „Bitte helfen Sie mir.“ Und sie haben es auch verstanden, dass dann ein ehrliches Danke angemessen ist. Ganz allein kommt niemand von uns durch das Leben und wahrscheinlich haben wir deshalb so viele andere Menschen um uns herum.

 

Lasst uns aufmerksamer werden, anderen zu helfen wenn sie uns brauchen und haben wir den Mut, selber um Hilfe zu bitten – und damit anderen das gute Gefühl des Gebrauchtwerdens zu schenken.

 

 

Gabriele Jöhren, 20.06.2017